Anwendungsbereich vom Jugendstrafrecht
- Im Jugendgerichtsgesetz (JGG) sind gemäß § 2 JGG Ausnahmevorschriften von den Regelungen des allgemeinen Strafrechts in materiellrechtlicher, prozessrechtlicher und gerichtsverfassungsrechtlicher Hinsicht enthalten, jedoch keine Vorschriften über Straftatbestände. Insoweit gelten gemäß § 1 Abs. 1 JGG das allgemeine Strafrecht und das Nebenstrafrecht.
- Die Regeln des Jugendstrafverfahrens kommen gemäß § 1 Abs. 2 JGG zur Anwendung, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Straftat begeht. Maßgeblich ist das Alter zur Tatzeit.
- Bei Jugendlichen kommt immer Jugendstrafrecht zur Anwendung. Bei Heranwachsenden kann auch Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen.
- Personen unter vierzehn Jahren sind strafunmündig. Bei Verfehlungen wird kein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil es gemäß § 19 StGB an der Schuldfähigkeit fehlt. Fehlverhaltensweisen von Kindern kann nur mit Angeboten des Jugendhilferechts im Sozialgesetzbuch (SGB VIII) und den Eingriffsmöglichkeiten des Vormundschaftsrechts (§ 1666 BGB) entgegen getreten werden.
Was sind typische Jugenddelikte?
- Straftaten junger Täter lassen sich oftmals auf die schwierige Umorientierungsphase im Zuge des Erwachsenwerdens zurück führen. Jugenddelinquenz ist unabhängig von sozialer Schichtzugehörigkeit und Nationalität. Zumeist handelt es sich um ein nur vorübergehendes Erscheinungsbild.
- Typische Jugenddelikte sind Diebstahl gemäß § 242 StGB, Körperverletzung gemäß § 223 StGB, Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB, Hausfriedensbruch gemäß § 123 StGB, Verkehrsdelikte und Betäubungsmitteldelikte.
- Ein besonderes Erscheinungsbild sind Gruppendelikte. Hier werden die jugendlichen oder heranwachsenden Täter aus einer Gruppendynamik heraus zu Handlungen verleitet, die ihnen als Individuum persönlichkeitsfremd erscheinen.
- Nicht selten stehen Jugenddelikte auch in Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenkonsum.
- Bei Tätern mit Migrationshintergrund müssen die konkreten Lebensumstände berücksichtigt werden.
- Ein Sonderproblem stellen junge Intensivtäter dar.
Was gilt bei Jugendlichen?
- Ein Täter zählt als Jugendlicher, wenn er zur Zeit der Tat mindestens vierzehn Jahre alt ist, aber das achtzehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hat. Die Anwendung von Jugendstrafrecht ist zwingend.
- Bei Jugendlichen muss gemäß § 3 JGG die Verantwortungsreife festgestellt werden. Es ist daher zu prüfen, ob der Jugendliche nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung zum Tatzeitpunkt reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Bei fehlender Verantwortungsreife erfolgt eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder ein Freispruch in der Hauptverhandlung.
- Die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit gemäß den §§ 20, 21 StGB sind unabhängig von der Verantwortungsreife zu prüfen. Wenn neben der Verantwortungsreife auch die Schuldfähigkeit fehlt, kann es zur Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung kommen.
Was gilt bei Heranwachsenden?
- Heranwachsender ist, wer zur Tatzeit mindestens achtzehn Jahre alt ist, aber das einundzwanzigste Lebensjahr noch nicht erreicht hat. Es kann Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen.
- Begeht ein Heranwachsender eine Straftat, kommt das Jugendstrafrecht gemäß § 105 JGG nur dann zur Anwendung, wenn zur Tatzeit eine Reifeverzögerung vorgelegen hat oder es sich bei der Tat um eine Jugendverfehlung gehandelt hat.
- Wenn auf einen Heranwachsenden Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, kann eine lebenslange Freiheitsstrafe gemäß § 106 JGG auf eine zeitige Freiheitsstrafen von 10 bis 15 Jahren herabgesetzt werden. Außerdem kann Sicherungsverwahrung nur vorbehalten oder nachträglich angordnet werden.
Reifeverzögerung
- Eine Reifeverzögerung liegt vor, wenn die Gesamtwürdigung des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen oder geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleich stand.
- Anhaltspunkte können anhand nachfolgender Kriterien gewonnen werden: realistische Lebensplanung, ernsthafte Einstellung zur Ausbildung, realistische Alltagsbewältigung, Eigenständigkeit, Freundeskreis, Bindungsfähigkeit, Urteils- und Einsichtsfähigkeit.
- Im Zweifel ist Jugendstrafrecht anzuwenden. Jugendstrafrecht findet aber keine Anwendung, wenn keine weitere Reifeentwicklung mehr zu erwarten ist.
Jugendverfehlung
- Eine Jugendverfehlung kann sich sowohl aus objektiven als auch aus subjektiven Gesichtspunkten ergeben. Maßgeblich sind Tatausführung, Tatumstände und Täterpersönlichkeit.
- Beispielsweise kann die Tat Ausdruck von falsch verstandener Freundschaft oder von Imponiergehabe sein oder auf mangelndem Widerstandsvermögen beruhen.
- Auch hier ist im Zweifel Jugendstrafrecht anzuwenden.
Welche Ausnahmen gibt es im JGG?
- Die Hauptverhandlung gegen Jugendliche ist gemäß § 48 JGG nicht öffentlich.
- Unter bestimmten Voraussetzungen kann im Jugendstrafrecht gegen Jugendliche gemäß den §§ 76 bis 78 JGG ein vereinfachtes Jugendverfahren durchgeführt werden. Gegen Heranwachsende darf ein vereinfachtes Jugendverfahren nicht durchgeführt werden.
- Gemäß § 80 Abs. 1 JGG kann gegen einen Jugendlichen Privatklage nicht erhoben werden. Die Nebenklage ist gemäß § 80 Abs. 3 JGG nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Gemäß § 81 JGG findet ein Adhäsionsverfahren (§§ 404 bis 406c StPO) gegen Jugendliche nicht statt. Gegen Heranwachsende sind Privatklage, Nebenklage und Adhäsionsverfahren unbeschränkt zulässig.
- Gemäß § 79 Abs. 1 JGG ist gegen Jugendliche das Strafbefehlsverfahren (§§ 407 bis 412 StPO) unzulässig. Wenn bei einem Heranwachsenden Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, kann zwar ein Strafbefehl erlassen werden, allerdings gemäß § 109 Abs. 3 JGG keine Freiheitsstrafe verhängt werden.
- Das beschleunigte Verfahren (§§ 417 bis 420 StPO) darf nur gegen Heranwachsende durchgeführt werden.
- Im Bußgeldverfahren gilt für das Verwaltungsverfahren und die Rechtsfolgen das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), im Übrigen findet aber das JGG Anwendung.
Gibt es vorläufige Maßnahmen?
- Gemäß § 71 Abs. 1 JGG kann der Jugendrichter bis zur Rechtskraft des Urteils vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder Leistungen der Jugendhilfe gemäß SGB VIII anregen.
- Gemäß § 71 Abs. 2 JGG kann er außerdem die einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe anordnen.
Was gilt bei Untersuchungshaft?
- Gemäß § 72 Abs. 1 JGG sind bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Untersuchungshaft auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen.
- Gemäß § 72 Abs. 2 JGG darf bei Jugendlichen unter sechzehn Jahren Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur angeordnet werden, wenn der junge Beschuldigte sich entweder dem Verfahren bereits entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen oder im Geltungsbereich des JGG keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat.
- Bei Anordnung von Untersuchungshaft ist das Verfahren gemäß § 71 Abs. 5 JGG mit besonderer Beschleunigung durchzuführen.
Was ist bei Rechtsmitteln zu beachten?
- Gemäß § 55 Abs. 1 JGG kann eine Entscheidung, in der lediglich Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel angeordnet worden sind, nicht wegen des Umfangs der Maßnahmen oder Zuchtmittel mit einem Rechtsmittel angefochten werden.
- Nach § 55 Abs. 2 JGG kann ein Revisionsverfahren nicht mehr durchgeführt werden, wenn der Jugendliche eine zulässige Berufung eingelegt hat. Hat dagegen nur die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, kann der Jugendliche gegen das Berufungsurteil der Jugendkammer Revision einlegen.
- Bei Heranwachsenden gilt die Rechtsmittelbeschränkung nur, wenn Jugendstrafrecht zur Anwendung gekommen ist.
Was versteht man unter Diversion?
- Mit Diversion ist Vermeidung gemeint. Die Staatsanwaltschaft kann gemäß § 45 JGG von einer Verfolgung absehen. Das Gericht kann das Verfahren gemäß § 47 JGG einstellen.
- Gemäß § 109 Abs. 2 JGG gelten die Diversionsvorschriften auch für Heranwachsende. Die Diversion wird gemäß § 60 Nr. 7 BZRG ins Erziehungsregister eingetragen.
- Die Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 154, 154a StPO finden im Jugendstrafverfahren ebenfalls Anwendung. § 153a StPO wird allerdings verdrängt, obwohl die Anwendung dieser Vorschrift insoweit vorteilhafter wäre, als dass keine Eintragung im Erziehungsregister erfolgen würde.
- § 45 Abs. 1 JGG verweist auf § 153 StPO. Voraussetzung für eine Diversion sind daher insoweit der Verdacht eines Vergehens, geringe Schuld und mangelndes öffentliches Interesse.
- Erzieherische Maßnahmen gemäß § 45 Abs. 2 JGG können beispielsweise Sanktionen der Eltern oder Maßnahmen der Jugendhilfe sein. Ein Geständnis wird grundsätzlich nicht vorausgesetzt. Anders kann sich dies beim Täter-
Opfer- Ausgleich verhalten. - Wenn die Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG nicht mehr ausreichen und der Täter geständig ist, kann eine Diversion gemäß § 45 Abs. 3 JGG durch richterliche Ermahnung oder die Erfüllung von richterlich angeordneten Auflagen und Weisungen erreicht werden.
- Nach Erhebung der Anklage kann der Jugendrichter das Verfahren nach § 47 JGG mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 45 JGG einstellen.
- Eine Diversion kann auch noch in der Berufung oder Revision ergehen.
Was macht die Jugendgerichtshilfe?
- Bei der Jugendgerichtshilfe handelt es sich gemäß § 38 JGG um eine Abteilung des Jugendamtes.
- Unter anderem erfüllt sie gemäß § 52 SBG VIII die Aufgaben der Jugendhilfe.
- Weiterhin ist die Jugendgerichtshilfe Ermittlungshilfe und sammelt in dieser Funktion Erkenntnisse über Lebensgeschichte und Situation des Jugendlichen. In einem Bericht gibt sie sodann die Ermittlungsergebnisse bekannt und nimmt aus sozialpädagogischer Sicht Stellung zur Verantwortungsreife, zur Frage der Reifeverzögerung bei Heranwachsenden sowie zur Prognose für eine Bewährung bei drohender Jugendstrafe. Außerdem macht sie auch Vorschläge für geeignete Sanktionen gemäß den §§ 5, 7 JGG.
- Allerdings besteht keine gesetzlich geregelte Berichts- und Anwesenheitspflicht in der Hauptverhandlung.
- Die Jugendgerichtshilfe unterliegt nicht der Schweigepflicht und hat kein Zeugnisverweigerungsrecht. Deswegen besteht auch eine Pflicht zur Belehrung des Jugendlichen. Allerdings bedarf es einer Aussagegenehmigung gemäß § 54 StPO vom Dienstvorgesetzten.
- Nach einer Verurteilung unterstützt sie den Jugendlichen bei der Erfüllung von Auflagen und Weisungen.
- Von der Vollstreckung eines Haftbefehls ist die Jugendgerichtshilfe gemäß § 72a JGG unverzüglich zu unterrichten.
Welche Rechte haben Eltern?
- Im Strafverfahren gegen Jugendliche haben Eltern gemäß § 67 Abs. 1 und 3 JGG Anwesenheits‑, Anhörungs‑, Frage- und Antragsrechte.
- Alle Mitteilungen, die an den Jugendlichen vorgeschrieben sind, sollen gemäß § 67a Abs. 1 JGG auch an die Eltern gerichtet sein. Informationen, die der Jugendliche gemäß § 70a JGG zu erhalten hat, sind gemäß § 67a Abs. 2 JGG so bald wie möglich auch den Eltern zu erteilen. Darüber hinaus sind die Eltern über einen Freiheitsentzug unverzüglich zu unterrichten. Gemäß § 67a Abs. 3 JGG dürfen Mitteilungen und Informationen nur ausnahmsweise unterbleiben.
- Eltern haben gemäß § 67 Abs. 2 JGG das Recht, einen Verteidiger zu beauftragen und Rechtsbehelfe einzulegen.
- Gemäß § 67 Abs. 4 JGG kann der Richter den Eltern ihre Rechte entziehen.
- Nach § 67 Abs. 5 JGG kann jeder Elternteil seine Rechte ausüben. In der Hauptverhandlung wird der abwesende Elternteil als durch den anwesenden vertreten angesehen. Sind Mitteilungen oder Ladungen vorgeschrieben, so genügt es, wenn sie an einen Elternteil gerichtet werden.
- Nach § 50 Abs. 2 JGG sind die Eltern förmlich zur Hauptverhandlung zu laden und haben dann auch eine Erscheinenspflicht. Gemäß § 51 Abs. 2 JGG kann der Richter die Eltern aber auch von der Hauptverhandlung ausschließen.
- Der jugendliche Beschuldigte muss von der Polizei unter anderem auch darüber belehrt werden, dass er vor einer Vernehmung mit seinen Eltern unüberwacht sprechen darf und ihre Anwesenheit verlangen darf. Die Eltern sind von einer bevorstehenden Beschuldigtenvernehmung zu informieren. Die Verletzung dieser Pflicht führt zu einem Verwertungsverbot.
Was steht im Erziehungsregister?
- Zum Schutz junger Verurteilter wird das Erziehungsregister als Sonderkartei, getrennt vom Strafregister, geführt. Für das Erziehungsregister gelten die §§ 59 bis 64 BZRG.
- Eingetragen werden gemäß § 60 BZRG weniger schwerwiegende jugendstrafrechtlichen Maßnahmen, insbesondere Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Diversionsentscheidungen.
- Im Übrigen erfolgt eine Eintragung im Bundeszentralregister.
- Gemäß § 63 Abs. 1 BZRG werden Eintragungen entfernt, wenn die betroffene Person das 24. Lebensjahr vollendet hat, es sei denn, im Bundeszentralregister ist zwischenzeitlich eine Verurteilung zu freiheitsentziehenden Maßnahme eingetragen worden.
- Einsicht in das Erziehungsregister haben nach § 61 BZRG nur Strafgerichte, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsbehörden, Vormundschafts- und Familiengerichte, Jugendämter sowie Gnadenbehörden.
- Grundsätzlich müssen Eintragungen im Erziehungsregister nicht offenbart werden.
- Eintragungen aus dem Erziehungsregister werden nicht in das polizeiliche Führungszeugnis aufgenommen. Bei den ins Bundeszentralregister aufgenommenen Daten kann es dagegen zur einer Eintragung im Führungszeugnis kommen.
- Unter den Voraussetzungen der §§ 97 bis 101 JGG kann der Strafmakel durch Richterspruch vor Ablauf der Tilgungsfristen beseitigt werden.
Welcher Jugendrichter ist zuständig?
- Gemäß § 42 Abs. 3 S. 1 JGG darf ein Richter, wenn ein Angeklagter seinen tatsächlichen Aufenthaltsort nach Anklageerhebung wechselt, das Verfahren an den Richter abgeben, in dessen Bezirk sich der Angeklagte nunmehr aufhält.
Nach der Rechtsprechung des BGH (2 ARs 131/
- kann aber der Grundatz, dass sich Jugendliche vor dem für ihren Aufenthaltsort zuständigen Gericht, das regelmäßig über die größere Sachnähe verfügt, verantworten sollen, zur Vermeidung erheblicher Verfahrenserschwernisse durchbrochen werden.
- können solche Verfahrenserschwernisse in Verfahrensverzögerungen oder Reiseaufwand der Verfahrensbeteiligten bestehen.
- gilt dies umso mehr für einen heranwachsenden Angeklagten, der im Laufe des Verfahrens erwachsen wird. Denn bei dieser Sachlage tritt der erzieherisch relevante Gesichtspunkt der Entscheidungsnähe des für den Wohnsitz zuständigen Gerichts zurück. Die im richterlichen Ermessen stehende Abgabe ist dann unzweckmäßig.